Sozialstruktur vor dem Ersten Weltkrieg
Datenschutz ist eine relativ junge Erfindung. Adressbücher der Stadt verraten uns noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, wer wann wo wohnte, und geben auch Auskunft über die Berufe der Familienvorstände – im Normallfall die der berufstätigen Männer. Nur alleinstehende, allein wohnende Frauen (zum Beispiel “englische Fräuleins”) finden Erwähnung. Einige mit Sicherheit gut versorgte Witwen haben ihren Wohnsitz im Westen der Stadt gefunden.
Obwohl also Datenmaterial vorliegt gibt, es bis heute keine flächendeckende, fundierte Sozialstrukturanalyse des Hohenzollernviertels und des Vorderen Westens, eines Stadtteils der mit seinen auf Rendite angelegten Häusern vornehmlich auf höhere Beamte, Offiziere, Freiberufler, Unternehmer und Rentiers als Mieter zumeist großer, komfortabler Wohnungen zielte. So wohnten zum Beispiel im Vorderhaus des repräsentativen Hauses Kaiserstraße 13 (Goethestraße) im Jahr 1912 eine „Ehefrau“ und ein „Professor“, im ersten Stockwerk ein „Regierungsrat“ und ein „Konsul der Vereinigten Staaten“, in der zweiten Etage ein „Privatmann“ und ein „Fabrikant“, über ihnen ein „Landgerichtsrat“ und eine „Hausdame“, schließlich im vierten Stock eine „Witwe“ und ein „Kaufmann“. Nach dem Adressbuch von 1920 finden wir im Haus als Haushaltsvorstände je einen Oberst, Generalleutnant und Konsul a. D., drei höhere Beamte (darunter einen jüdischen), einen aktiven und einen Unternehmer im Ruhestand. Im vierten Stock wohnten zwei Witwen.
Die Auskünfte der Adressbücher legen es nahe, das Klischee vom Vorderen Westen als dem Viertel der Beamten und Offiziere zu differenzieren, betrachtet man zum Beispiel eine Reihe von Häusern rund um oder am August-Bebel-Platz. Nicht unweit vom Bebelplatz, in den Häusern Dörnbergstr. 13-17 und ihren drei Hinterhäusern, hatte zum Beispiel der Ev. Arbeiter-Wohnungsbau-Verein Häuser errichtet, deren Wohnbevölkerung proletarisch war. Auch sonst war die Wohnbevölkerung nach soziologischen Kriterien durchaus nicht homogen, sondern umfasste ein breites Spektrum innerhalb der “Mittelschichten” des Kaiserreichs. Auffallend ist zudem die Präsenz von Eisenbahnern im Quartier. Dabei gab es meist bereits innerhalb eines Hauses eine soziale Hierarchie: zum einen vom Erd- zum Dachgeschoss, wobei die erste Etage als „Beletage“ galt, zum anderen vom Vorder- zum Hinterhaus (wo es eines oder mehrere gab). In der Kaiserstraße teilten sich 1933 beispielsweise die jeweils vier Wohnungen der beiden Hinterhäuser die Familien eines Kellners, eines Maschinisten, eines Krankenpflegers, eines Bürogehilfen, eines Kaufmanns, eines Schlossers und eines Schreinermeisters.
Im Folgenden werden auf der Grundlage des Adressbuches von 1915 die Haushaltsvorstände von ausgewählten Häusern am Neumarkt , dem heutigen August-Bebel-Platz, und in seiner unmittelbaren Umgebung aufgelistet - und zwar jeweils vom obersten bis zum Erdgeschoss. Die Fotos zeigen die Häuser im Jahr 2016.